Helambu: 9 Tage zu Fuß über Berge

Familie im Helambu, Nepal 2009 (c) emmenreiter.de

Himalaja, wir kommen – und zwar zu Fuß

Immer nur auf den Emmen reiten? Nö! In den Bergen Nepals haben wir auch gar keine andere Wahl. Es sei denn, wir steigen auf Yak oder Esel um. Obwohl wir keine Trekkingprofis sind, wollen wir unbedingt ein paar Tage die Umgebung und das Leben des Sherpavolks im nepalesischen Himalaja aus eigener Kraft entdecken. Die Helambu-Region ist dafür perfekt: Der Ausgangspunkt des Treks ist von Kathmandu aus mit dem Bus in nur einer Stunde erreichbar. Bei gutem Wetter hat man tolle Aussichten auf die hohen Schneegipfel der Langtang-Bergkette und kommt auf dem Weg durch die typischen, tibetisch geprägten Dörfer. Im Helambu sind außerdem nur wenige Touristen unterwegs, was die Bergreise mit dem Rucksack halbwegs authentisch macht. Auf einen Bergführer oder Träger sind wir in dieser Gegend glücklicherweise auch nicht angewiesen.
Insgesamt 42 Stunden und 15 Minuten Fußmarsch, geschätzte 100 Kilometer Wegstrecke, 3.100 Höhenmeter bergauf und 4.700 Höhenmeter bergab liegen vor uns. Wir werden beide zusammen 45 Liter Bergwasser unsere Kehle runterspülen und wieder ausschwitzen, ein paar Gramm Fett verlieren und die Tiefenmuskulatur aus dem Dornröschenschlaf holen. Unser Himalaja-Abenteuer beginnt…

Helambu-Trek

Tag 1: Aller Anfang ist schwer

Strecke: von Sundarijal (1460m) nach Chisopani (2215m)
Anstieg: 960 Höhenmeter, Abstieg: 205 Höhenmeter
Marschdauer: 5 Stunden, 30 Minuten
Gefühlslage: gespannt, optimistisch – später kurzatmig, überhitzt und gut durchblutet

25. März, 6 Uhr. Der Wecker klingelt. Unsere gepackten Rucksäcke warten schon die ganze Nacht am Bett. Noch ein letztes großes Frühstück im Yak Restaurant und um halb Neun sitzen wir im Bus nach Sundarijal. Eine Stunde später sind wir an der Endstation – unser Ausgangspunkt für die Trekkingtour. Von nun an geht es nur noch zu Fuß weiter. Neun Tage lang. Die Rucksäcke sitzen perfekt und sofort beginnt eine Felstreppe – natürlich schön steil aufwärts. Heute müssen wir fast einen Kilometer Lufthöhe erklettern. Wir hoffen, dass die Puste reicht, um unser erstes Etappenziel vorm Dunkelwerden zu erreichen. Micha sucht im Unterholz nach zwei guten Wanderstöcken, an denen wir uns seelisch und körperlich festhalten können. Nach einer Stunde Treppe-Non-Stop stehen wir mit roten Gesichtern am Eingang des Shivapuri Nationalparks und dürfen ein bisschen verschnaufen, solange wir die zweimal 250 Rupien Eintrittsgeld bezahlen. „Wenn das weiter so steil nach oben geht, dann schaffen wir das niemals bis nach Chisopani!” Aller Anfang ist eben schwer. Das Aufwärts nimmt kein Ende. Die Sonnenstrahlen sind kräftig und heizen uns zusätzlich ein. Ich motiviere mich mit dem Sprichwort, das ich aus einer Bergsteigerdokumentation behalten hat: Wer andere besiegt, hat Muskelkraft. Wer sich selbst besiegt, ist stark.
Wir klettern weiter und suchen unseren Weg durch Wälder, vorbei an Kornfeldern an den Hängen, über die Höfe der Bergbauern und durch kleine Felsschluchten. Nach Wegweisern braucht man nicht zu suchen, es gibt keine. Wir nutzen jede Gelegenheit, um uns bei den Einheimischen über den richtigen Weg zu versichern, denn für Umwege reicht die Energie heute nicht aus. Endlich hat sich die Atmung auf das Dauerklettern eingestellt. Immer wieder machen wir einen kurzen Halt, wischen uns den Schweiß von der Stirn und schütten Wasser nach. Der hoffnungsvolle Blick auf die nepalesische Wanderkarte hilft uns leider wenig. Wir haben keine Ahnung, wie weit wir auf den Felsentreppen schon gekommen sind. Als wir nach drei Stunden an einem Häuschen Pause machen, heißt es: Nur noch zwei Stunden bis nach Chisopani! Das hört sich wirklich gut an. Das Ziel rückt auf einmal so nah.
Wir werfen einen stolzen Blick zurück ins Tal. Nach viereinhalb Stunden geht es dann auch endlich mal bergab. Eine letzte Stunde später sehen wir dann ein paar Häuser am Horizont: Chisopani! Mit weichen Knien erreichen wir die erste Lodge. Dicke Wolken haben sich gerade über uns zusammengerauft. Es blitzt und donnert und wir treten gerade noch rechtzeitig vor dem heftigen Gewitterregen über die Schwelle. Die Unterkunft ist perfekt: eine kleine Stube mit Ausblick. Nach einer lauwarmen Dusche schlüpfen wir in die lange Unterwäsche, bestellen uns Kräutertee und genießen auf der Veranda nebenan das kräftige Gewitter, das bis spät in den Abend immer wieder ein tiefes, lautes Donnergraulen über die Berge schickt. Die Stimmung ist urgemütlich, es gibt keine bessere Belohung am ersten Tag!

Tag 2: Regenjacke an, aus, an

Strecke: von Chisopani (2215m) nach Joghin Danda (2450m)
Anstieg: 680 Höhenmeter, Abstieg: 445 Höhenmeter
Marschdauer: 6 Stunden, 30 Minuten
Gefühlslage: Rucksack schwer, Beine schwer, alles schwer

Wir hatten eine gute erste Nacht und krabbeln um halb Sieben ausgeschlafen aus dem Schlafsack. Zum Frühstück essen wir Omelett, Bratkartoffeln und tibetisches Brot – eine ordentliche Menge neuer Energie. Immer noch ist es draußen wolkig. Als wir losgehen, müssen wir unsere Motorradregensachen überstreifen, denn es fängt an zu regnen. Fünf Minuten später scheint dann plötzlich die Sonne und wir pellen uns wieder aus der Kombi heraus. Wir laufen etwa eine halbe Stunde bergab bis nach Tati Banyang (1.770 m). Die Höhenmeter von gestern sind damit hin. Kaum ausgesprochen geht es nach einem kleinen Marsch auf gleicher Ebene auf den nächsten Gipfel mit 2450 Metern – aufwärts für den Rest des Tages. Auf dem steinigen Pfad nach oben wechseln sich Sonnenstrahlen und Regenschauer ab. Wenn es zu heftig wird, setzen wir uns kurz unter die Vordächer der Sherpahütten am Wegesrand. Wir blicken beim Verschnaufen hinter uns auf die Terrassenfelder im Tal, in denen die Saat gerade erst aufgeht. An den Hängen nutzen die Bauern jeden Platz, um Kartoffeln oder Reis anzubauen. Manchmal messen einzelne Terrassen gerade mal zwei Quadratmeter.
Nach einer langen, kräftezehrenden Felsentreppe landen wir mit dem letzten Stufenschritt auf dem Hof einer Familie kurz vor Chipling. Eine gute Gelegenheit, sich bei einer dampfenden Tasse schwarzen Tees eine Weile zu erholen. Wenn die Wanderkarte richtig ist, haben wir noch ein ganzes Stück vor uns. Kurz nachdem wir die drei, vier Häuser von Chipling passieren, stehen wir mal wieder wie ein Ochse vorm Scheunentor an einer Gabelung, die in der Karte nicht eindeutig erkennbar ist. Der linke Weg sieht etwas breiter und öfter begangen aus. Der Rechte ist kaum als solcher zu erkennen. Eine Stunde später stehen wir wieder an derselben Stelle und haben endlich verstanden, dass die eher unscheinbaren Pfade viel öfter die richtigen sind. Der vermeintlich Richtige hatte uns in einem Bogen anstatt nach Norden weiter nach Westen gebracht. Der rechte Pfad entpuppt sich zwei Minuten später als eine Reihe von Felsbrocken, über die wir nach oben krabbeln. Ich schniefe und schnaube und stütze mich auf meinem derzeit besten Freund – den Wanderstock. Die Fußsohlen brennen und der Rucksack schnürt sich in die Schultern. Es ist schon kurz vor Drei und unser Tagesziel Gul Banyang liegt noch geschätzte anderthalb Stunden Wanderung entfernt auf der anderen Seite vom Pass. Dann endlich setzen wir den letzten Schritt nach oben: Wir stehen jetzt in Joghin Danda am Pass auf 2.450 Metern. Die Sonne scheint seit einer ganzen Weile, der Himmel klart auf. Die friedliche Stimmung an diesem Ort ist herrlich, ringsum der weite Blick auf Täler und Berge. Wir entscheiden uns, die Wanderstöcke in die Ecke zu stellen und diese Nacht hier zu verbringen. In einem der drei Häuser aus Felsstein und Lehm ist eine junge Familie mit drei Kindern zuhause. Micha fragt die junge Mutter mit dem Baby auf dem Rücken, ob wir eine Kammer in ihrer Lodge beziehen dürfen. Kurze Zeit später, trifft noch ein anderer Wanderer über die Schwelle: Ashley aus Australien – groß, sportlich, trekking-erprobt, der heute aus Sundarijal bis hierher gestiefelt ist.
Erstaunt von seiner Energie tauschen wir an unserem gemeinsamen Feierabend die unterschiedlichen Erfahrungen aus, während die süßen Mädchen, Dolma und Diki, unsere Aufmerksamkeit suchen. Nach Sonnenuntergang wird es sofort kalt. Während die Mädchen immer noch im T-Shirt und barfuß über den Lehmboden laufen, dürfen wir uns drinnen mit der Familie auf Matten an die gemütliche Feuerstelle setzen. Der Rauch verteilt sich im kleinen, dunklen Raum. Solange die Mutter frischen Dhal Bhat für uns kocht, beobachten wir, wie sich Dolma um ihren fünf Monate alten Bruder kümmert. Wenn er weint, steckt sie ihm ihren Finger zum Nuckeln in den Mund. Sie legt ihn in ein kleines Körbchen, wackelt ihn in den Schlaf, deckt ein Tuch darüber und schiebt alles zusammen unters nahe stehende Küchenregal. Nach einer Stunde steht unser warmes Abendessen auf drei kleinen Holzbänkchen vor uns. Mit brennenden Augen vom Feuerqualm gehen wir um Neun die Außentreppe hinauf in unsere Schlafkammern. Schon wieder beginnt ein starkes Gewitter. Ich muss leider noch mal raus aufs Plumpsklo, ein kleiner Bergdurchfall. Der Regen prasselt laut aufs Wellblechdach. Wir hoffen, dass der Sturm die dünnen Bleche nicht runterreißt und wir auf einmal direkt in die Gewitterwolken gucken. Etwas mulmig zu Mute, aber eingekuschelt im Trockenen fallen wir ohne Zwischenfälle in den verdienten Schlaf.

Tag 3: Abschied von Dolma und Diki

Strecke: von Joghin Danda (2450m) nach Kutumsang (2470m)
Anstieg: 490 Höhenmeter, Abstieg: 470 Höhenmeter
Marschdauer: 4 Stunden, 30 Minuten
Gefühlslage: morgens glücklich, mittags totmüde, abends satt

Früh am Morgen wecken uns Kinderstimmen: „Good morning, Suzan! Good morning, Michel!” Dolma und Diki sind schon hellwach auf den Beinen und warten darauf, dass wir raus in die Sonne treten. Zügig steigen wir mit muffigen Socken in die Stiefel, werfen das Gepäck auf den Buckel und nehmen zusammen mit Ashley Abschied von der kleinen Sherpafamilie in Joghin Danda.
Der Regen der letzten Nacht hat den Staub aus der Luft gewaschen und vor uns erstreckt sich über den gesamten Horizont die beeindruckende Bergkette des Langtangs. Belohnt mit diesem Anblick beginnen wir die dritte Etappe. Mal sehen, wie weit und hoch wir es heute schaffen. Ashley wandert mit Meilenschritten voraus. Es geht auf einem breiten Waldweg runter nach Gul Banhyang (1.770 m). Das nasse Laub auf dem Boden riecht nach Herbst und frische Luft füllt unsere Lungen. Hinterm Dorf im Tal wartet wieder ein Anstieg über Wiesen und Steine, auf dem wir uns zweieinhalb Stunden mit sportlichem Ehrgeiz aufwärts quälen. Ashley ist schon längst überm Berg verschwunden. Sein Tempo ist nicht zu toppen. Oben am Gipfel suchen wir nach seinen Fußspuren, denn schon wieder stehen wir vor mehreren Pfaden und müssen raten, wo lang.
Ein Stück weiter bergab treffen wir Ashley mittags im Dorf Kutumsang wieder. Er hat seine Pause gerade beendet und schreitet nach einem Kaffee in Richtung Mangen Goth davon. Wir wollen ihm später dorthin folgen und nochmals gemeinsam Feierabend machen. Doch als wir so in der warmen Sonne sitzen und merken, wie schwer und müde unsere Glieder sind und wie lang noch der vor uns liegende Anstieg wäre, gönnen wir uns den Luxus, den Wandertag für heute zu beenden. Das Gasthaus ist reizend und hat sogar eine richtig heiße Dusche auf dem Hof. Wir haben alles richtig gemacht und genießen frisch gewaschen die sportfreien Stunden. Später gehen wir noch rüber ins Holzhaus, wo wir beim Wachmann für je tausend Rupien unsere Tickets für den Langtang Nationalpark besorgen, den wir morgen betreten werden. Abends schlachten die Männer und Söhne mit einem für die Bergregion typischen Nepalidolch eine Ziege. Interessant zu beobachten, aber unser Appetit wird nicht angeregt. Wir müssen an das strenge Hammelfleisch aus Usbekistan denken, das auf keinen Fall eine Delikatesse ist. Wie schon so oft füllt vegetarisches Dhal Bhat bestens unsere hungrigen Bäuche. Gemeinsam mit einer agilen Maus in unserem Zimmer legen wir uns zur Nachtruhe in die Holzbetten.

Tag 4: So riecht der Winter

Strecke: von Kutumsang (2.470 m) nach Tharepati (3.510 m)
Anstieg: 1.140 Höhenmeter, Abstieg: 100 Höhenmeter
Marschdauer: 7 Stunden, 15 Minuten
Gefühlslage: pures Winterfeeling bei Kieferngeruch und Schnee

Weil wir so früh schlafen gehen, wachen wir auch ohne Weckerklingeln früh genug auf. Die Socken und T-Shirts, die wir gestern in der Blechschüssel endlich mal durchgespült haben, tragen sich gleich viel angenehmer. Nach Haferbrei zum Frühstück begeben wir uns gut gelaunt auf die schwierigste Etappe. Tagesziel ist Tharepati – der höchste Ort unseres Helambu-Abenteuers. Die Leute erzählen uns, dass es dort gestern kräftig gestürmt und geschneit hat. In Kutumsang ist es windstill und leicht bewölkt. Eine Viertelstunde hinterm Ort beginnen wir einen laaaangen Aufstieg, für den wir etwa sechs bis sieben Stunden einplanen.
Die ersten Meter sind jedes Mal die Schwierigsten, solange sich der Körper mit der Anstrengung abgefunden hat. Anfangs umgeben uns urige Laubwälder. In dieser Gegend könnte scheinbar jeden Moment der Yeti um die Ecke biegen. Das Wetter wird langsam ungemütlicher und keine Menschenseele ist in Sicht. Außer ein paar Krähenschreie ist es sehr still. Weiter oben angelangt schleichen Nebelwolken über unseren Pfad. Die Luft ist kalt und feucht. Auf dem Boden erkennen wir eine mysteriöse Schleifspur, die uns den Weg weist. An den in Wolken liegenden Rhodedendren vorbei beginnt bald ein felsiger Pfad, der uns bis nach Mangen Goth auf 3.220 Meter bringt. Die Luft wird dünner und der Atem schneller. Kurz vor der kleinen Siedlung löst sich das Rätsel der Schleifspur auf: Uns kommt ein Nepalese entgegen, der einen großen Holzbalken im Schlepptau ins Tal hievt. Hier in den Bergen wird alles aus eigener Kraft transportiert.
Es ist mittags. Nach einer Teepause in der Gaststube in Mangen Goth geht’s schnell weiter, bevor uns die Trägheit überkommt. Jetzt liegt hier und da schon mal ein größerer Flecken Schnee im Wald. Wir stiefeln brav gen Tharepati und bald löst eine dichte Schneedecke die Flecken ab. Kiefernadeln duften und erinnern uns an Weihnachten. Der Nebel ist auf einmal so dicht, dass wir kaum noch die Umgebung erkennen. Zum Glück können wir den Spuren anderer Leute auf dem rutschigen Pfad durch den Schnee folgen.
Nach sieben Stunden seit Aufbruch gucken wir auf die Uhr und noch immer ist kein Haus in Sicht. Unmut macht sich breit. Unsere Energie ist für heute fast aufgebraucht. Drei Minuten danach tauchen im Nebel plötzlich ein paar Berghütten auf – und ein Schild: Welcome to Tharepati! So ähnlich müssen sich Tenzing und Edmund gefreut haben, als sie den Mount Everest bestiegen haben!
In der ersten Hütte treffen wir auch endlich unseren Australier Ashley wieder. Sein übereilter Aufstieg hat sich leider gerächt und er liegt schwach und übel auf der Bank am Kaminofen. Wir gesellen uns zu ihm und noch zwei anderen Wanderern. Bis zum Schlafengehen rücken wir nicht mehr von der wärmenden Ofenstelle ab. Draußen verharrt der dichte Nebel und drinnen ist es schön gemütlich. In den einfachen Schlafkammern, in denen die Fenster nur mit Folie verschlossen sind, ist es allerdings so kalt, dass wir unseren Atem sehen können. Auf dem höchsten Punkt unserer Wanderung ist das Wasser im Eimer neben dem Draußenklo mit Eis bedeckt. Der Lodgebesitzer kocht uns ein gutes Essen und danach kriechen wir sekundenschnell in unsere tollen Schlafsäcke, um stolz in den Winterschlaf zu fallen: „Gute Nacht, Tenzing!“, „Gute Nacht, Edmund!”

Tag 5: Bergab ist es auch nicht leichter

Strecke: von Tharepati (ca. 3.700 m) nach Melamchigaon (2.530 m)
Anstieg: 0 Höhenmeter, Abstieg: 980 Höhenmeter
Marschdauer: 4 Stunden
Gefühlslage: hoch konzentriert, wenig motiviert

In den ersten vier Tagen zu Fuß im Himalaja sind wir vom Sommer in den Frühling, in den Herbst und kalten Winter geklettert. Nach einer Schneeballschlacht auf dem höchsten Gipfel unseres Helambu-Marsches geht es jetzt wieder runter in den Bergfrühling, wo die Rhododendren blühen und die Hühnerküken schlüpfen.
Die Nacht in Tharepati war ruhig und warm genug. Wir haben beim Einschlafen gemerkt, dass sich unsere Körper erst noch akklimatisieren und an die dünnere Höhenluft gewöhnen müssen. Als wir um sechs Uhr aus den Federn kriechen, strahlt draußen schon die Sonne über den blendenden Schnee. Die Nebelwolken von gestern haben sich in klare Luft aufgelöst. Der Himmel ist tiefblau und die Sicht auf die Berge frei. Ein perfekter Start in den fünften Tag. Mit kleinen Augen und fröstelnd machen wir den Schritt vor die Tür zur Morgenwäsche. Nach vielen Monaten im Sommer stehen wir in Tharepati auf einmal mitten im Winter.
Nach mühevollen Tagen bergauf ist heute endlich ein Bergab-Tag! Mit Mütze und Handschuhen sagen wir Tschüss zu Ashley, der heute zusammen mit den beiden anderen Wanderern versucht, über einen Viertausenderpass in die Langtang-Region zu kommen. Diesmal geht er es jedoch langsamer an. Auf unserer Etappe steht hingegen ein ganzer Höhenkilometer abwärts an. Etwa dreihundert Höhenmeter rutschen wir auf den Sohlen über den steilen, steinigen Pfad nach unten. Konzentration ist gefragt und wir merken bald, dass der Abstieg auch nicht viel leichter ist. Keine Sache der Puste, aber der Gelenke und Wadenmuskulatur. Irgendwie haben wir auch das Gefühl, dass es nichts mehr zu erreichen gibt, obwohl noch so viel Strecke mit neuen Eindrücken vor uns liegt.
Der Schnee hört irgendwann auf und die Landschaft geht in einen feuchten Laubwald über. Die Sonne verschwindet immer öfter hinter Wolken. Die Bäume sind mit einer dicken Schicht Moos bewuchert und manchmal sieht es so aus, als hingen Affen in den Ästen. Ein paar Schritte weiter, hinter einem der buddhistischen Chorten auf dem Weg, scheuchen wir tatsächlich ein paar große, weißbärtige Langurenaffen auf. Elegant springen sie davon und beobachten uns aus dem Gebüsch. Heute sind wir die Einzigen, die ihr Revier durchwandern.
Nach drei Stunden erreichen wir dann die Hängebrücke über den Chhyandi-Fluss und können die Häuser von Melamchigaon auf dem kleinen Hügel vor uns sehen. Es fängt an zu nieseln, als wir unsere Füße über die Holzschwelle der Himalaya Lama Lodge setzen. Ringsum im Garten baut die Familie des kleinen Gasthauses Kartoffeln und Zwiebeln an. Alles im Hof sieht so ordentlich aus. Auch drinnen, im typisch tibetischen Haus, glänzen der polierte, dunkle Holzfußboden und das aufgereihte Edelstahlgeschirr in den mit Schnitzereien verzierten Regalen.
Der Abstieg hat uns ganz schön geschlaucht. Wir essen zu Abend und gehen mal wieder früh ins Bett. Diesmal um siebzehn Uhr. Wir sind die einzigen Gäste. Draußen kracht ein neues Gewitter und lässt den Gemüsegarten gedeihen. Hofhund Struppi liegt auf der kleinen Veranda vor unserer Tür und verteidigt sein und unser Revier gegenüber anderen Hunden aus dem Dorf. Gute Nacht, Struppi!

Tag 6: Das Tagesziel vor Augen

Strecke: von Melamchigaon (2.530 m) nach Tarkeghyang (2.740 m)
Anstieg: 850 Höhenmeter, Abstieg: 640 Höhenmeter
Marschdauer: 5 Stunden
Gefühlslage: neue Kräfte nach 13 Stunden Schlaf

Halb sieben, aufstehen! Die Frühstückseier liegen schon im Topf und der Chapati-Teig wird gerollt. Wir setzen uns an die Kochstelle in der Küche auf den Boden und beobachten, wie unsere erste Mahlzeit des Tages zubereitet wird. Die Sonne scheint hell durch die offene Tür. Unsere Sherpa Gastgeberin, deren komplizierten Namen wir leider vergessen haben, spricht ein bisschen Englisch und wir nehmen uns die Zeit für ein langes Frühstück mit ihr. Wir kaufen ihr ein handgefertigtes Nepali-Messer ab – dasselbe Modell, mit dem in Kutumsang die Ziege geschlachtet wurde. Als wir uns dann um Neun endlich auf die Socken machen, hängt sie uns buddhistische Seidenschals als Glücksbringer um den Hals. „Dort müsst ihr hin, nur drei Stunden Weg!” Sie zeigt mit ihrem Finger auf ein Dorf auf der anderen Bergseite des Tals. Wir haben Dorf Tarkegyang also schon vor Augen. Mit dem Tagesziel in Sichtweite starten wir voller Kraft in den sechsten Helambutag.
Vorbei an einem großen Tempel beginnt der Abstieg ins Tal, bis wir an die kleine Hängebrücke über den Melamchi Khola kommen. Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten sind bis hier vergangen. An einem Bergbach pumpt Micha frisches Quellwasser in unsere leeren Trinkflaschen und danach machen wir uns auf den Weg nach oben. Das Dorf Tarkegyang versteckt sich jetzt hinter Bäumen und Felsen. Die Luft ist sehr feucht und wir haben Schweißränder an den Sachen. Geduldig setzen wir einen Fuß vor den anderen und quälen den Wanderstock. Meine Waden sind hart und wir merken mal wieder, das Trekking in den Bergen kein Spaziergang ist. Irgendwann vorm Ziel treffen wir auf zwei Jungs, die jeweils vierzig Kilogramm schwere Sandsäcke gebückt zur Baustelle am Tempel schleppen. Sie sind kaum langsamer als wir. Unglaublich, welche Lasten Kinder und Erwachsene in den Bergen herumtragen. Zur Stärkung gibt es einen Müsliriegel und wir wandern mit ihnen weiter. Mit Gänsehaut an den Armen erreichen wir um zwei Uhr bei Regenschauer das Gasthaus in Tarkeghyang. Nach einer heißen Dusche aus dem Eimer belohnen wir uns mit einem Riesenteller Bratkartoffeln, Yak-Käse, Dhal Bhat und heißem Zitronentee neben dem gemütlichen Feuer im Haus. Morgen ist Ruhetag und wir genießen die Aussicht auf marschfreie sechsunddreißig Stunden.

Tag 7: Mönch, Riesengebetsmühle und tibetischer Buttertee

Strecke: Spaziergang durch Tarkeghyang (2.740 m)
Anstieg: 8 Höhenmeter, Abstieg: 8 Höhenmeter
Marschdauer: 1 Stunde
Gefühlslage: endlich ein Ruhetag

In Tarkeghyang tauchen wir ein bisschen ins Sherpaleben ein. Morgens kocht die Familie Kichererbsen und reicht uns eine Schale vom lecker, aber sauscharf gewürzten Frühstück. Als unsere Augen tränen und Micha die Schweißperlen auf der Stirn stehen, streut uns die Köchin lächelnd Reisflocken zur Entschärfung in die Schalen.
Mit dem jungen buddhistischen Mönch, der neben uns in der Gaststube sitzt, machen wir einen Spaziergang zu den heiligen Stätten im Ort. Er erzählt uns, dass er gerade drei Jahre und drei Monate Meditation und Schriftenstudium im Kloster absolviert hat. In dieser Zeit sind die Mönche von der Außenwelt völlig abgeschottet. Micha dreht mit ihm zusammen an der Riesengebetsmühle im Tempel – für gutes Karma.
Wie in den anderen Dörfern der Helambu-Region leben die Menschen hier sehr bescheiden, traditionell und sind sich ihrer tibetisch-buddhistischen Wurzeln sehr bewusst. Religion und Familie stehen im Mittelpunkt des Bergdorflebens, in dem Männer wie eh und je kleine Felder bewirtschaften, die Frauen mit dem Haushalt beschäftigt sind und die Kinder den Alten früh zur Hand gehen.
Eine typische Sherpafamilie lädt uns auf dem Rückweg zum Gasthaus zum salzigen Buttertee in ihre Stube ein. Wie immer brennt das Feuer, an das wir gebeten werden. Im Hintergrund hören wir den Vater Passagen aus heiligen tibetischen Schriften im Sprechgesang vor sich hinmurmeln. Seine beiden Söhne toben aufgeregt um die Fremden aus Germany herum. Der Buttertee wird reichlich nachgeschenkt und wir lassen uns nicht anmerken, dass er uns nicht schmeckt.
Nach einem Faulenzernachmittag in der Sonne sehen wir den Israeli Amit im Gasthaus ankommen. Zusammen sitzen wir am Abend in der Stube und lernen neben dem Buddhismus auf einmal auch was über die jüdische Kultur dazu.

Tag 8: Frischer Bohnenkaffee aus Israel

Strecke: von Tarkeghyang (2.740 m) nach Sermathang (2.590 m)
Anstieg: 0 Höhenmeter, Abstieg: 150 Höhenmeter
Marschdauer: 4 Stunden
Gefühlslage: immer munter, hoch und runter

Beim Aufstehen in Tarkeghyang spüren wir immer noch die Wadenmuskeln. Der Nacken hat sich durch den gestrigen Ruhetag zum Glück etwas entspannt. Meine Augen tränen ständig, vielleicht sind sie vom Feuerqualm im Haus gereizt.
Heute geht es auf eine relativ leichte Hoch-und-runter-Etappe bis nach Sermathang. Amit läuft vor uns los. Auf dem Weg überholen uns Einheimische, die zu einer Beerdigung ins Nachbardorf gehen. Aus dem Tempel der Trauerfeier, an dem wir einige Zeit später vorbei kommen, hören wir dumpfe Trommelschläge und tiefes Gemurmel. Wir stiefeln heute über steinige Pfade und Bäche vorbei an einigen Chorten und bunten Gebetsfahnen, die die heiligen Stätten schmücken. Zum ersten Mal laufen uns viele Helambubewohner entgegen, die alle möglichen Dinge in großen Körben auf dem Rücken in die Berge tragen. Einer von ihnen transportiert sogar einen Schrank.
In Sermathang werden wir in der Yangir Lodge herzlich zum Mittag empfangen und treffen Amit wieder. Das Wetter ist wunderbar. Beim Schlendern durchs Dorf auf der Suche nach Keksen sehen wir das alte und langsam zerfallende Rimpoche-Kloster. In dem länglichen Nebengebäude befinden sich zehn kleine Kammern, in denen bis vor kurzer Zeit noch zehn Mönche gleichzeitig drei Jahre und drei Monate meditiert haben. Momentan wirkt alles ausgestorben. Der Wind rüttelt am reparaturbedürftigen Blechdach und macht einen eigenartigen Lärm.
Zur Überraschung packt Amit am späten Nachmittag aus seinem Rucksack ein Kaffeekochset mit Gläsern aus. Auf seinem Benzinkocher köchelt er echten, israelischen Bohnenkaffee für uns und den netten Gastwirt. Die Frauen auf dem Hof staunen über die Miniaturkochstelle. Der Kaffeeduft ist betörend. Als die Gläser leer getrunken sind, inhalieren wir noch das feine Aroma aus der leeren Bohnenkaffeetüte.

Tag 9: Das Beste zum Schluss

Strecke: von Sermathang (2.590 m) nach Melamchipul Bazar (870 m)
Anstieg: 0 Höhenmeter, Abstieg: 1720 Höhenmeter
Marschdauer: 5 Stunden, 30 Minuten
Gefühlslage: endloser Abgang und so was wie Todesangst

Pünktlich um Sieben sind wir bereit zum Abgang. Die letzten Kilometer unseres Helambu-Abenteuers gehen wir zu Dritt mit Amit an. 1720 Höhenmeter nach unten! Am Morgen wissen wir noch nicht, was uns am Ende der Etappe erwartet.
Es ist angenehm kühl als wir losgehen und wir folgen dem kurvigen Jeepweg ins Tal. Wir blicken noch einmal zurück auf die Schneegipfel in der Morgensonne. An einer riesigen, goldenen Buddhastatue, die wir einmal im Uhrzeigersinn umrunden und an der wir unsere Glücksseidenschals aus Melamchigaon opfern, verabschieden wir uns von der beeindruckenden Helamburegion.
Teilweise ist der grobe Weg nach unten ziemlich steil und es wird immer wärmer. Die Siedlungen werden dichter und nach etwa fünfundzwanzig Kilometern Fußmarsch haben wir endlich den Ort Melamchipul Basar erreicht, wo wir überhitzt und müde in den engen Bus nach Kathmandu einsteigen. Als die fünf Ziegen auf dem Busdach verstaut und die Hühner in Pappkartons in die Gepäckablage gestopft sind, poltern wir los. Die guten Wanderstöcke, die uns treu bis hierher begleitet haben, lassen wir am Busstand zurück. Wir sitzen hinten und gucken nach vorne über die Menschen im Bus hinweg auf die schmale, sandige Bergstraße. Die Hoffnung auf eine entspannte Fahrt stirbt schnell mit jeder Note der indischen Popmusik, in deren Rhythmus wir in den durchgesessenen Sitzen auf und ab hoppeln. Der Glaube, dass sich die Straße bald bessern würde, erweist sich als falsch. Im Gegenteil.
Wir befinden uns auf einem zweifelhaften Weg und können nicht fassen, dass sich der heckgetriebene Tata-Bus, in dem wir hocken, auf dieser schmalen steilen Serpentinenstraße durch Zuckersand und Schotter nach oben quält. Plötzlich bleibt das Dieselmonster auch noch im aufgeweichten Schlamm stecken. Hundert Meter vor uns wühlt sich gerade ein Jeep durch die nächste Motterpassage und fährt sich schließlich genauso fest.
Aus dem Schiebefenster gucken wir direkt in den Abgrund raus. Mir wird zum ersten Mal auf der ganzen langen Reise schlecht vor Angst. Der Busfahrer will sein Monster durchbringen und tritt aufs Gaspedal. Zentimeter für Zentimeter kämpfen wir uns nach vorn, während draußen ein paar Männer mit der Schaufel immer wieder trockenen Sand und Steine vor die Antriebsräder schippen. Wenn der Bus zur Seite rutscht, war`s das. Mich überkommt ein Gefühl von Panik und bin kurz davor, aus dem Bus zu steigen. Nach einer Stunde Schlammpartie am Abgrund geht es weiter über die Berge. Abgesicherte Hänge und Wegränder Fehlanzeige. Wir haben keine Energie mehr für Angstgefühle. Nach drei Stunden Rumpelpiste sind wir dankbar, fix und fertig, aber lebendig in Kathmandu zurück zu sein. Das echte Abenteuer kam eben erst zum Schluss.

Am Ende unserer Wanderung halten wir noch einen Rekord fest:
Ich bin wahrscheinlich die Erste, die das Helambu in Motorradstiefeln durchlaufen hat – Goretex Endurostiefel von HeinGericke, Testurteil: durchaus auch für den Himalaja geeignet.

Reise-Abenteuer: Von der Haustür zum Himalaja und zurück
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